Donnerstag, 10. Juli 2008

Hinter die Oberfläche blicken

Völlig zugestaubt war er, der Holzwurm hatte ihm arg zugesetzt, ein Schlüssel fehlte, die Scharniere waren verrostet und kaputt. Die Rede ist von einem alten Küchenschrank. Bis vor einigen Jahren stand er im ehemaligen Kohlenkeller im Haus meiner Großeltern. Da verfiel er so vor sich hin.

Heute ist er das Glanzstück unseres Esszimmers. Er bekam neue Füße und eine neue Platte, neue Beschläge und Schubladenknäufe. Und durch das Abbeizen kam ein hell-warmes Weichholz, wahrscheinlich Fichte, zum Vorschein, das zuvor unter einer Lackierung verborgen lag. Es ist keine super-wertvolle Antiquität, aber schön anzusehen, dazu sehr nützlich (es geht nämlich viel rein), und darüber hinaus sogar eine Erinnerung an meine Uroma, der der Schrank zuerst gehörte, seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Was mir auch klar wird, wenn ich beim Frühstück sitze und mir das gute Stück so anschaue: wie wichtig es ist, hinter die Oberfläche zu schauen, nicht nur bei so einem alten Möbel, auch bei meinen Mitmenschen. Die schöne Seele hinter dem Staub erkennen, den nicht übersehen, der ausrangiert irgendwo abseits steht. Das heißt: den oder die Andere so sehen, wie Gott ihn oder sie gedacht hat. Sich also darin üben, mit den Augen der Liebe zu sehen.

Dazu muss ich aus meinem gewohnten Trott heraus. Ich muss mich anstrengen, denn ich muss mich dazu zwingen, ganz bewusst den Blick auf etwas oder jemand zu richten, der mir bis dahin gar nicht mehr besonders aufgefallen war. Oder aber ich muss bereit sein, dem Blick eines anderen zu vertrauen, der mir auf die Sprünge hilft und mich für bis dahin Unbeachtetes wieder begeistern kann. So ging es mir mit dem Küchenschrank. Ohne meine Frau - damals Freundin - stünde er wohl heute noch im Kohlenkeller.

Von wem lassen Sie sich auf die Sprünge helfen?

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