Montag, 29. April 2013

Zorn, Trost und Lobgesang - Predigt am Sonntag Kantate, 28.04.2013

(gehalten in der Prot. Kirche Ingenheim aus Anlass der Visitation des Kirchenbezirks Bad Bergzabern)
1 Zu der Zeit wirst du sagen:
Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich
        und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.
2 Siehe, Gott ist mein Heil,
        ich bin sicher und fürchte mich nicht;
denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm
        und ist mein Heil.

3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
        aus den Heilsbrunnen.
4 Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN,
        rufet an seinen Namen!
Machet kund unter den Völkern sein Tun,
        verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
5 Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen.
        Solches sei kund in allen Landen!
6 Jauchze und rühme, du Tochter Zion;
        denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
Jesaja 12, 1-6
Liebe Gemeinde,

vier Episoden will ich erzählen zu vier Aussagen aus diesem Psalm. Vier Geschichten, mit denen ich versuchen will, die alten Worte für uns heute mit Leben zu füllen.

1. "Ich danke dir, dass du zornig gewesen bist über mich"

Diesmal war Susannah, die Tochter des Königs, schwer enttäuscht von ihrem Vater. Wütend und traurig lief sie auf ihr Zimmer, warf die Tür ins Schloss und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf. So geschimpft hatte er schon lange nicht mehr. So zornig war er schon lange nicht mehr.

Aber ihre Strafe war ungerecht. Eine Woche Hausarrest, das hatte sie nicht verdient. Sie war es gar nicht gewesen, die die wertvolle Keramikschale heruntergeworfen hatte, das Geschenk irgendeines wichtigen Geschäftspartners, der auch noch ausgerechnet für die kommende Woche seinen Besuch angekündigt hatte.

Vielleicht war es eines der Dienstmädchen gewesen. Vielleicht war auch eine der Katzen hereingekommen, die draußen seit einiger Zeit immer zahlreicher herumstreunten. Aber als sie diese Möglichkeiten angeführt hatte, war ihr Vater nur noch zorniger geworden. Er hielt sie für Ausreden. Und traf eine Fehlentscheidung.

Vielleicht hatte er einen schlechten Tag voller schwieriger Amtgeschäfte hinter sich, aber das machte es nicht besser. Susannah hatte ihn immer bewundert für seine Souveränität, für seine Urteilssprüche, die stets als weise und gerecht angesehen wurden und im Volk von Mund zu Mund gingen. Sie hatte ihm stets vertraut. Und jetzt?

Sie wusste, wie sie sich hätte verhalten sollen, was der angemessene Umgangston gegenüber dem König gewesen wäre, auch für sie als seine Tochter. Bedanken hätte sie sich müssen: Danke, mein König, danke, Vater, dass du zornig über mich gewesen bist. Denn dem König zu danken, das hieß, ihm Recht zu geben. Danke, das heißt: Ja, du hast Recht, dass du zornig gewesen bist. Und wenn dieser Dank ausgesprochen war, dann hatte der König die Freiheit, Gnade walten zu lassen. Dann konnte er seinen gerechten Zorn verrauchen lassen. Dann konnte er die Hand zur Versöhnung ausstrecken und den von seiner Schuld Niedergeschlagenen wieder aufrichten. Aber diesmal konnte sie ihm nicht danken, ihm nicht Recht geben.

"Danke, Herr, dass du zornig gewesen bist über mich."
Einen Herrn zu haben, dem ich stets sogar für seinen Zorn danken kann
- weil ich weiß, dass er Recht hat damit
- weil ich weiß, dass er mich damit zurechtbringen will
Einen Herrn zu haben, dessen Zorn letztlich nur darin wurzelt,
- dass ihm etwas an mir liegt
- dass ich ihm nicht gleichgültig bin
- dass er mich liebt
... und dessen Liebe so tief geht, dass er mich bis auf den Grund durchschaut, so dass er mir gegenüber niemals ungerecht sein wird.
So einen Herrn zum Vater zu haben - wie wäre das?

2. "Du tröstest mich. Siehe, ich bin sicher und fürchte mich nicht."

Philipp ist zweieinhalb Jahre alt, und er hat es wirklich nicht leicht zurzeit. Er kann sich schon gut verständigen, kann sagen, was er will. Er entscheidet selbst, was er spielen, welches Buch er vorgelesen bekommen möchte. Nicht mehr Mama oder Papa sind es, die bestimmen, die vorgeben, was gemacht wird. Und er genießt es. Er ist stolz auf diese Unabhängigkeit, auf alles, was er alleine kann. Er will es alles auch alleine probieren und vorzeigen, und natürlich erwartet er angemessene Aufmerksamkeit für das Ergebnis.

Aber, aber: Welch ein Affront für das neu erwachte Selbstbewusstsein, erfahren zu müssen, dass manches eben doch nicht geht, dass sich manches, manche Dinge, manche Menschen, sich seinem Willen nicht fügen mögen.
Wenn der Käse, den er so gerne auch mal pur nascht, nun einmal aufgegessen wurde, dann ist er eben in diesem Moment nicht da.
Wenn die Oma, die übers Wochenende zu Besuch war, nun wieder mehr als hundert Kilometer entfernt ist, dann kann sie eben in diesem Moment nicht mit ihm spielen oder kuscheln.
Wenn die Wand nicht bemalt werden soll, dann ist das nun einmal zu akzeptieren.
Wenn das Sandmännchen seine Geschichte zu Ende erzählt hat, dann hat es sich für diesen Tag nun eben verabschiedet.

Doch was tut Philipp? Er wendet seine beiden neuen Lieblingsworte an: "Aber trotzdem." Sie stehen für: Ich kann doch schon alles alleine, es gehorcht doch sonst so vieles meinem Willen, das muss sich doch herbeizwingen lassen. "Aber trotzdem", mehrmals, wie ein Zauberritual - das leider nicht wirkt ... und deshalb schließlich kulminiert in der typischen Mischung kindlicher Verzweiflung und Wut: Tränen schießen ihm in die Augen und laufen über seine Wangen. Sein Stimme wird schrill, er schreit und heult, brüllt im wahrsten Sinne des Wortes Rotz und Wasser. Er stampft mit den Füßen auf, der ganze kleine Körper ein einziger Protest.

Keiner darf ihm jetzt zu nahe kommen. Mama ist böse, Papa auch, die ganze Welt hat sich gegen ihn verschworen. In diesen Minuten, die sich ewig ziehen, vor allem für die Eltern, in diesen Minuten ist er un-tröstlich. Er kann es nicht begreifen, was da vor sich geht. Je länger, je mehr schnürt es ihm die Luft ab. Er kommt ins Schluchzen, dann ins Japsen und Husten, kann kaum mehr atmen, so dass es einem Angst macht. So ein Ausbruch wegen einer Lappalie. Aber es ist eben nur aus Erwachsenensicht eine Lappalie. Und es braucht einfach seine Zeit, bis er die körperliche Nähe wieder zulassen kann, ja, sie selbst wieder sucht, er getröstet werden will.

Dann ebbt in Mamas oder Papas Armen das Schluchzen allmählich ab. Die Brust wird ihm wieder freier. Zwischendurch nimmt er einen tiefen Atemzug. Zuerst untröstlich, jetzt getröstet. Alles wieder gut, für diesmal.

"Herr, du tröstest mich."
Das hebräische Wort für "Trösten" an dieser Stelle bedeutet eigentlich: jemanden, auf dem eine schwere Last liegt, wieder durchatmen lassen. Also ihm den Stein vom Herzen nehmen. Die Enge in der Brust beseitigen.

Bei einem Kind wird das ganz augenfällig erfahrbar: diese Enge, die Luftnot, das Eingeschnürtsein im Untröstlichen.
Bei Erwachsenen ist es nicht immer gleich so sichtbar. Wie gut, wenn es dennoch geschieht, dass wir gegenseitig wahrnehmen, wenn einer verzweifelt ist, wenn jemand etwas ausbaden muss, woran er schwer trägt, wenn jemand trauert, wenn jemand sich selbst und die Welt nicht mehr versteht. Wie gut, wenn es dann für uns jemanden gibt - oder wir für andere derjenige sein können, der die Arme offen hält, der die Gabe hat, den Stein wegzuwälzen, damit wir wieder frei atmen können. Wie wundervoll, wie mit-menschlich, wie christlich, wenn das geschieht.

Und wie unfassbar, dass selbst das nur ein Vorgeschmack des Trostes sein soll, den wir bei Gott finden werden. "Siehe, ich bin sicher und fürchte mich nicht."

3. "Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen."

Chaim war aufgeregt. Zum ersten Mal durfte er die Pilgerreise nach Jerusalem mitmachen und dort Sukkot, das Laubhüttenfest von Anfang bis Ende mitfeiern, miterleben. Fast seine ganze Familie war dabei, Eltern, Schwestern, Brüder ...

Die zurückliegenden Tage waren schon voller Eindrücke gewesen. Wie alle Pilger die vier verschiedenen Sorten Grün nahmen und schnitten und ihre Feststräuße banden, wie es in der Tora vorgegeben war: die Früchte von schönen Bäumen, dazu Palmwedel, dann Zweige von Laubbäumen und Bachweiden. Und "ihr sollt sieben Tage fröhlich sein", das ist doch mal ein Gebot, dem man gerne folgt. Natürlich wohnten sie auch stilecht in einer Laubhütte, die sie gemeinsam mit zwei anderen Familien errichtet hatten. Die Laubhütten erinnerten an die provisorischen Unterkünfte des Volks Israel bei der Wanderung durch die Wüste, nach der Flucht aus Ägypten. Beim Laubhüttenfest ging es um Freiheit, von Gott geschenkte Freiheit.

Jetzt stand der Höhepunkt des Festes bevor: die große Wasserprozession. Versteht sich ja von selbst, dass bei einem Fest, das auf den Weg durch die Wüste anspielt, Wasser wichtig sein muss. Wie Mose an den Felsen geschlagen hatte und eine Quelle herausfloss. Alle konnten daraus trinken, ihren Durst stillen und so überleben.

Nun ging es los. Die Nacht war hereingebrochen, aber die ganze Stadt war hell erleuchtet, überall brannten Fackeln und Kerzen und Lampen. "Es gab keinen Hof in Jerusalem, der nicht vom Lichte der Wasserprozession bestrahlt worden wäre" . Psalmengesänge wurden angestimmt und während der ganzen Zeit beibehalten, die die Prozession brauchte, um vom Teich Schiloah, wo eine goldene Kanne mit Wasser gefüllt wurde, durch das Wassertor zum Tempelhof zu ziehen. Mehrfach stießen die Priester im Verlauf der Prozession in die Trompeten. Selbst der Hohepriester war ein Augenschmaus: Im Tempelhof angekommen, trat er im vollen Ornat vor das Volk, nahm das Wasser aus der Quelle und goss es feierlich in die Silberschalen auf dem Altar.

Chaim war überwältigt. Es stimmte tatsächlich, was der Talmud behauptete: "Wer die Lustbarkeit bei der Wasserprozession nicht gesehen hat, hat im Leben keine Lustbarkeit gesehen."  Und er verstand nun besser, was diese Prophezeiung im Buch des Propheten Jesaja bedeutete: "Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen."

Da ging es nicht nur um die sieben Tage Laubhüttenfest in Jerusalem. Da ging es um eine Festzeit für das ganze Gottesvolk. Und es wäre noch viel herrlicher, noch viel glanzvoller, mit noch mehr Gesang und Musik und Licht als bei der Wasserprozession, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie das noch übertroffen werden sollte. Und das Wasser, ja, das wäre tatsächlich das Wasser des Lebens.

Chaim war erfüllt von Glück und Hoffnung, und aus vollem Halse stimmte er mit ein in die Psalmen und Lobgesänge um ihn herum.

4. "Lobsinget dem Herrn"

Hätte sie sich doch nur nicht dazu breitschlagen lassen. Singen, Mensch Karin, dachte sie, ausgerechnet singen, das war doch noch nie dein Ding, jedenfalls nicht mit anderen oder vor anderen. Unter der Dusche ein bisschen summen, das ja. Und mit den Kindern, früher, ein paar Spaßlieder oder Schlaflieder, o.k. - aber das lag jetzt auch schon eine Zeitlang zurück, seit die Kinder in die Pubertät gekommen waren. Auch im Auto sang sie mal mit, wenn im Radio ein Popsong kam, der ihr gefiel. Aber da konnte sie ja auch sonst niemand hören. Und jetzt: im Chor?

Na klar: Sie hatte es ihrer Freundin Barbara zuliebe getan. Die wollte so gerne und unbedingt, traute sich nur nicht recht allein, also hatte sie Karin gebeten, sie zu begleiten. Becircte sie auch noch, von wegen, sie habe doch auch eine schöne Stimme, und wer schön spricht, der singt auch schön undsoweiterundsofort. Und dann war es ausgemachte Sache.

Zweimal war sie nun schon zur Chorprobe mitgegangen, und beide Male waren grauenhaft. Eine Katastrophe. Sie stolperte in den Noten herum. Die anderen Stimmen irritierten sie, so dass sie ständig raus kam. Sie konnte nicht bei ihrer Stimme bleiben, hörte sich auch selbst nicht, schloss sich der Melodieführung einer anderen Stimme an, die gar nicht die ihre war, bemerkte es, kam ins Stocken, setzte aus. Aber Barbara war so glücklich: "Hach, es ist so toll, und noch toller, weil meine beste Freundin auch dabei ist, ich danke dir ..."

Nun also: die dritte Probe. Diese eine noch, dann wäre Schluss. Das würde die letzte sein, das würde sie Barbara hinterher eröffnen. Dreimal mitgehen musste reichen, mehr Freundschaftsdienst war nicht zu erwarten.

Die Probe begann - und alles war anders. Mit einem Mal ging es besser. Es musste sich doch irgendwie eingeprägt, eingeschliffen haben, was sie zu singen hatte. Es passte. Das machte sie selbstbewusster; sie atmete freier, unbeschwerter. Sie hörte sich selbst. Und zugleich die anderen. Was für ein Gefühl, diese Gleichzeitigkeit: eigene, unverwechselbare Stimme zu sein und eine unter vielen, und auf diese Weise einen einzigen, gemeinsamen, vielstimmigen Gesang hervorzubringen. Ihr wurde innerlich leicht, sie fühlte sich schweben, durchströmt von Glück.

Als sie es abends ihrem Sohn schildert, gönnt der ihr einen skeptischen Blick. Schweben, aha. Glücksströme, m-hm, soso. Singen? Im Chor? Puh.
Eine Woche später besucht er ein Rockkonzert. Mit Tausenden Menschen gleichzeitig springen, klatschen, Songzeilen mehr grölen als singen - aber was für ein Gefühl: dieses Einssein mit den anderen und dennoch ganz er selbst.

So soll es in der Gemeinde Gottes sein?
Nicht nur zum wöchentlichen Probentermin?
Nicht nur zum Konzert-Event hin und wieder?
Sondern immer so, zu jeder Zeit: Ein Glied am Leibe Christi. Ein Ganzes mit allen anderen - und doch frei, selbständig, ein Individuum, das dazugehört.
Immer und ewig diese Gemeinschaft?
Was für eine Verheißung.

"Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen!
Machet kund unter den Völkern sein Tun,
verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
Lobsinget dem Herrn!"
Kantate!
Amen.

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