Montag, 27. Juli 2009

Zum 100. Geburtstag von Hilde Domin: Ein Lieblingsstück in meiner Bibliothek

Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.


Im Februar 2006 verstarb die Lyrikerin Hilde Domin im Alter von 96 Jahren. Seit 1961 hatte sie in Heidelberg gelebt. Heute, am 27. Juli 2009, hätte sie ihren 100. Geburtstag feiern können.

Meine erste Begegnung mit Hilde Domin, genauer: mit ihren Texten, geschah - natürlich? - im Deutschunterricht; wenn ich mich recht erinnere, sogar erst in der Oberstufe, im Leistungskurs. Welche Domin-Gedichte wir lasen und interpretierten, weiß ich nicht mehr, aber in meinem Kopf setzte sich eine Wendung aus ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen fest, die unser Deutschlehrer einmal erläuternd gebrauchte: Dass nämlich moderne Gedichte sich auszeichnen durch ihre potentielle "Virulenz". Damals hatte ich das Gefühl, als wäre ich der einzige aus unserem Kurs gewesen, der sich diese Formulierung merkte. Es war mir so auf Anhieb einleuchtend, und dieses Wort fasste es so prägnant zusammen: dass ein Gedicht nie nur das bedeutet, was der Dichter, die Dichterin, bewusst hineinlegt. Dass seine Bedeutung mit jedem neuen Leser je neu entsteht, jede Leserin selbst mit dem Lesen oder Hören und Deuten des Gedichtes einen schöpferischen Akt vollbringt - ohne dass dies ein beliebiger Vorgang wäre, denn es sind ja keine beliebigen Worte. Dass es geradezu Aufgabe der Lyrikerin ist, eine "unspezifische Genauigkeit" hervorzubringen, was sehr viel auch mit Klängen, mit der Musik des Textes zu tun hat. Später wurde mir bewusst, dass auch vielen Bibeltexten diese potentielle Virulenz eigen ist.

Dass ich ausgerechnet 1992 mein Abitur machte und dabei auch noch die Ehre und Freude hatte, mit dem Scheffelpreis ausgezeichnet zu werden: Glücklicher Zufall oder Fügung? Jedenfalls bekam ich mit Urkunde und kostenloser 5-Jahres-Mitgliedschaft in der Literarischen Gesellschaft auch noch die Mitglieder-Jahresgabe des Vorjahres 1991 überreicht: ein Hilde-Domin-Lesebuch mit ausgewählter Lyrik und Prosa. Es ist eine Sonderausgabe, die meines Wissens so nicht über den Buchhandel erhältlich war bzw. ist:



Das Buch scheint nach wie vor über die Literarische Gesellschaft erhältlich zu sein (Menü: Publikationen/Jahresgaben) - ob auch für Nichtmitglieder, kann ich nicht sagen.

Im selben Jahr, 1992, begann ich mit dem Theologiestudium. Und auch dabei gab es den einen oder anderen Kontakt mit einem Text Hilde Domins, beispielsweise mit dem fast schon monumental zu nennenden "Abel steh auf" (das aber natürlich auch in der genannten Jahresgabe schon enthalten war). Ein Auszug:

wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein


Im Mai 1996 wurde das Büchlein zu einem Lieblingsstück in meiner bescheidenen kleinen Privatbibliothek. Ich besuchte eine Lesung Hilde Domins in der Evangelischen Studierendengemeinde Heidelberg und ließ es mir signieren. Sie wirkte etwas überrascht, dass jemand mit diesem Buch ankam, und sagte: "Ach, Sie haben diese Ausgabe bekommen? Das ist eine schöne Ausgabe." Leider ist inzwischen aufgrund mangelhafter Klebebindung zwischen den Seiten 62 und 63 der Buchblock gebrochen.





Einige Jahre später, es muss 2003 oder 2004 gewesen sein, besuchte ich nochmals eine ihrer Lesungen, diesmal in der Aula eines Heidelberger Gymnasiums. Dauerhaft in Erinnerung geblieben ist mir jedoch die 1996er Lesung. Es war so eine familiäre Atmosphäre, dort im ESG-Saal, mit der Dichterin auf Augenhöhe zu sein, sie aus solcher Nähe ihre Werke vortragen zu hören (jeweils immer zweimal), mit zugleich brüchiger und klarer Stimme.

Besser ein Messer als ein Wort.
Ein Messer kann stumpf sein.
Ein Messer trifft oft
am Herzen vorbei.
Nicht das Wort.


Noch zwei Tipps anlässlich des 100. Geburtstags von Hilde Domin:

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Montag, 20. Juli 2009

Die Unbarmherzigkeit der "Körperwelten"

Vor einiger Zeit fasste ich hier im Blog diverse kirchliche Stellungnahmen zur "Körperwelten"-Ausstellung von Gunther von Hagens zusammen. Als ich mich kürzlich mit dem Thema "Krankenpflege" auseinandersetzte, wurde ich daran erinnert, dass wie die Krankenpflege so auch die Bestattung von Toten klassischerweise zu den christlichen "Werken der Barmherzigkeit" zählt. Und von daher könnte sich aus christlicher Sicht noch einmal ein neuer Aspekt hinsichtlich der ethischen Beurteilung der "Körperwelten" ergeben:

Tote zu bestatten zählt zu den Werken der Barmherzigkeit. Was bedeutet das im Hinblick auf die "Körperwelten"-Ausstellung eines Gunther von Hagens? Wir verstehen als Christinnen und Christen Nächstenliebe so, dass wir uns selbst noch der Toten erbarmen, die einmal unsere Nächsten waren. Wir überlassen sie - nicht nur aus hygienischen Gründen - nicht einfach sich selbst. Wir begleiten sie noch auf dem letzten Weg, hin zur Umwandlung in Asche und Staub. Und: Wir lassen nicht zu, dass sie zu Sensationsobjekten werden, bewahren die zerfallenden Körper, die einmal lebendige Menschen waren, vor dem lüsternen Auge der Öffentlichkeit.

Das zu tun ist eine Barmherzigkeit. Gilt sie mehr als die "freie Entscheidung" der Körperspender? Ich meine, ja. Denn die Barmherzigkeit, die in der Bestattung der Toten liegt, bezieht sich nicht nur auf die Verstorbenen, sondern auch auf die noch Lebenden. Die festen Formen der Erd- oder Feuerbestattung schaffen Sicherheit im Blick darauf, was mit uns nach dem Tod geschieht - Sicherheit, dass unsere Würde auch im Tod gewahrt bleibt und nicht nachträglich verletzt wird. Wir sind erbarmungswürdige Geschöpfe, denn wir wissen, dass wir sterben müssen. Gott hat sich unser erbarmt - so sollen wir uns auch einander gegenseitig erbarmen.

UPDATE (22.07.09): Eine kritische Rückmeldung bei Twitter veranlasst mich zu einer Ergänzung. Ich wurde auf die im Bremer Dom zu sehenden Mumien hingewiesen. Absicht dieses Hinweises ist offensichtlich, zu belegen, dass die Kirchen - in diesem Fall vertreten durch mich - eben das selbst tun, was sie an den "Körperwelten" kritisieren: Leichen und Leichenteile ausstellen. Meine Antwort lautete, dass ich im Anschluss an meine hier ausgeführten Gedanken konsequenterweise die Ausstellung der Mumien im Bremer Dom für genauso unangemessen halten muss. An den Bremer Mumien sei nichts Unethisches, so kam wiederum die Replik. "Sie stillen die Neugier des Menschen am Tod - und das seit Jahrhunderten." Ganz so einfach ist die Sache freilich nicht, wie etwa Karl-Heinrich von Stülpnagel vom Ägyptologischen Institut der Universität Leipzig in einem Artikel mit dem Titel "Mumien in Museen - ethische Überlegungen" (1998) aufzeigt. Insofern halte ich daran fest, dass aus christlicher Sicht Leichen aller Art zu bestatten sind, sobald sie ihren wissenschaftlichen Zweck erfüllt haben. So wird es in der Regel auch mit Anatomieleichen gehandhabt.

Ich möchte aber sagen, dass ich meine obigen Ausführungen als noch unabgeschlossenen Denkprozess verstehe. Angeregt wurden diese Gedanken eben durch meine (Wieder-)Entdeckung der Totenbestattung als Werk christlicher Barmherzigkeit. In Matthäus 25 sind freilich nur die anderen sechs Werke genannt. Das siebte Werk - die Totenbestattung eben - wurde laut Wikipedia-Artikel (s.o.) erst später hinzugefügt und hat sich etabliert, "obwohl es der Aussage Jesu widerspricht, die Toten sollten die Toten begraben (Mt 8,22)".

Ein anderer Aspekt, der zu diesen Themenbereich gehört, für den ich mich als evangelischer Theologe aber weder zuständig noch ausreichend kompetent fühle, ist die Frage des Umgangs mit Reliquien, vor allem Ganzkörperreliquien. Warum sie nicht bestattet werden (müssen), mögen katholische Theologinnen und Theologen begründen.

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Bücher zur Debatte um die Körperwelten: