Heute habe ich eine Rundfunkandacht zu lesen bekommen, bei der mein erster Impuls dahin ging, sie komplett abzulehnen. Das kommt nicht oft vor. Meistens beschränke ich mich auf Vorschläge für rundfunkgerechtere Formulierungen, löse Kettensätze auf, versuche am Ende eines Beitrags noch einmal den Faden vom Anfang einzuarbeiten. Bei den Andachten dieses speziellen Autors habe ich normalerweise sehr wenig zu tun. Sprachlich war auch dieser Beitrag völlig in Ordnung, knackig formuliert, pointiert. Mit seinem Inhalt konnte ich mich diesmal aber überhaupt nicht einverstanden erklären.
Es geht um Wer-kennt-wen, kurz WKW, eine von vielen Social-Networking-Sites, die im Zuge des Web-2.0-Booms entstanden sind. WKW ist derzeit eine der am schnellsten wachsenden Online-Communities. Auch ich bin dort seit einigen Wochen registriert, und das Schöne an diesem Netzwerk für mich persönlich ist, dass dort im Moment vor allem Leute aus "meiner Ecke" zu finden sind, aus dem Saarland und Rheinland-Pfalz. Von dort breitet sich WKW in diesen Tagen und Wochen rasend schnell aus.
Nun mag sein, dass ich als durchaus begeisterter WKW-Nutzer voreingenommen bin und nicht mehr objektiv urteile. Dennoch meine ich, dass diese Kritik in ihrer Pauschalität einfach nicht zutrifft:
...„Wer-kennt-wen“ ist unter den Internet-Treffpunkten der neuste Schrei. Man präsentiert sich so, wie man selbst gesehen werden möchte - einschließlich Bild, das gerne auch mal geschönt wird. Wer will, kann sich ins Gästebuch eintragen – von originell über obszön bis peinlich ist alles dabei. Diese Offenheit hat allerdings ihren Preis: Schon manchem hat sie die Karriere vermasselt - Personalchefs lesen nicht nur Bewerbungsmappen.
In „Wer kennt wen“ entstehen Beziehungen weder neu noch werden sie vertieft. Eher sammelt man Bekanntschaften wie Briefmarken – je mehr davon, desto besser, ohne Rücksicht auf ihren Wert.
Manche investieren Stunden für die Beziehungspflege im Internet. Mir ist meine Zeit dafür zu schade. Ich bevorzuge den persönlichen und direkten Kontakt.
In „Wer kennt wen“ entstehen Beziehungen weder neu noch werden sie vertieft. Eher sammelt man Bekanntschaften wie Briefmarken – je mehr davon, desto besser, ohne Rücksicht auf ihren Wert.
Manche investieren Stunden für die Beziehungspflege im Internet. Mir ist meine Zeit dafür zu schade. Ich bevorzuge den persönlichen und direkten Kontakt.
Vor allem die letzten Sätze fordern meinen Widerspruch heraus. Denn - Bekanntschaften wie Briefmarken sammeln? Das mag auf WKW zum Teil zutreffen. Aber mit jeder dieser "Briefmarken", wie viele es auch sind, verbinde ich eine persönliche Geschichte, vielleicht nur ein paar Sätze, ein paar Minuten, einen Augenblick, aber jede einzelne Briefmarke ist ein kleines Stückchen Autobiografie. Und während die Marken im Album so bleiben, wie sie sind, entdecke ich bei WKW, wie sich diese Fragmente aus meiner Vergangenheit entwickelt haben, was für ein Leben sie geführt haben, wo sie heute stehen. Ich entdecke in der Gegenwart Gemeinsamkeiten, die mir damals nicht aufgefallen sind, oder die es damals noch nicht gab. Und ich entdecke möglicherweise Unterschiede, die mir heute den Zugang zu einer Person schwer machen würden, obwohl wir damals gute Freunde waren.
Ich grabe die alten Kindergarten-, Schulklassen- und Konfirmationsfotos wieder aus, scanne sie ein, lade sie hoch und verknüpfe die Personen darauf mit den Profilen bei WKW. Ja, ich "sammle" die Schulkameraden, die auf den Klassenfotos zu sehen sind, bei WKW, hoffe, dass auch diejenigen, die dort noch nicht registriert sind, bald wieder auftauchen. Zugegeben, es geht schon irgendwie um Vollständigkeit. Und ja, es ist viel Nostalgie dabei, auch Melancholie. Es ist rückwärtsgewandt, schlägt scheinbar abgeschlossene Lebenskapitel wieder auf.
Aber ich komme über die Nachrichtenfunktion auch mit vielen wieder in Kontakt, die ich aus den Augen verloren habe. Sind es unbedeutende Kontakte, Bekanntschaften von geringerem "Wert", weil sie in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt haben? Sie haben aber einmal eine Rolle gespielt, und damit gehören sie zu meiner persönlichen Entwicklungsgeschichte, jeder und jede irgendwie und irgendwo und irgendwann ein kleines Steinchen auf dem Weg zu dem Menschen, der ich heute bin.
Und ich erfahre auch von Schicksalen, die Menschen widerfuhren, mit denen ich ein Stück Weges gemeinsam gegangen bin - wie von der Mitkonfirmandin, genauso alt wie ich, die schon zwei Schlaganfälle hinter sich und deshalb vieles vergessen hat und sich auch an mich nicht mehr erinnern kann. Aber sie sieht sich und mich auf dem Konfirmationsfoto, das ich hochgeladen habe, und stimmt meiner Anfrage zu: "Ja, ich kenne Alexander." Und auf einmal ist ein kleiner Baustein ihrer vergessenen Vergangenheit wieder da.
Schließlich hängt es von jedem selbst ab, wie er WKW nutzt. Ich zumindest sammle dort nicht Kontakte, nur damit ich irgendwann die meisten davon habe. Ich frage nicht beliebige WKW-Nutzer an, um irgendwann Spitzenreiter der Bekanntheits- (nicht gleich Beliebtheits-) Skala zu sein. Die Regel ist: Ich stimme nur Kontaktanfragen von Menschen zu, denen ich einmal persönlich begegnet bin und mit denen ich wenigstens ein paar Worte gewechselt habe. Manchmal ist es nicht leicht sich zu erinnern.
Wenige Ausnahmen von dieser Regel gibt es freilich: So habe ich vor einiger Zeit begonnen, bei Verwandt.de unseren Familienstammbaum anzulegen. Und bei WKW habe ich nun entfernte Verwandtschaft ausfindig gemacht und zur Mitarbeit am verwandt.de-Stammbaum eingeladen. Diese Verwandten nicht auch bei WKW als "bekannt" zu verknüpfen, selbst wenn ich ihnen bisher noch nie persönlich begegnet bin, fände ich engstirnig. Und dann gibt es da noch ein paar Menschen, mit denen ich beruflich zu tun hatte oder habe, allerdings bislang nur auf telefonischem oder elektronisch-postalischem Wege. Sie bilden eine weitere Ausnahme von der Regel.
Nicht jeder Online-Kontakt ist oberflächlich. Und nicht jede Beziehung, die ich offline habe, geht in die Tiefe. Wir von "Kirchens" tendieren immer noch zu oft und zu gerne dazu, technische Errungenschaften zu verteufeln, die Zeit, die in "Virtuelles" investiert wird, als vergeudet und in "persönlichem und direktem Kontakt" sinnvoller nutzbar zu definieren.
Aber ohne die technische Errungenschaft von Computer und Internet hätte ich den Kontakt zu vielen meiner WKW-Verbindungen vermutlich niemals wieder gefunden. Das heißt, es wäre viel (zeit-)aufwändiger gewesen, hätte noch viel mehr Stunden beansprucht als es WKW tut. WKW macht die Sache einfacher. Und es setzt auch die Hemmschwelle herab. Es ist ein bisschen wie mit den in den vergangenen Jahren neu eingerichteten Kircheneintrittsstellen: Der Weg über die Pfarrhausschwelle fällt vielen, die einmal ausgetreten sind, schwerer als der Gang ins Kirchencafé. So ist auch die Kontaktaufnahme per E-Mail und WKW niedrigschwelliger als ein Telefonanruf oder gar ein Besuch. Ganz zu schweigen davon, dass inzwischen oft viele Kilometer zu bewältigen wären. Dass die Kontakte nun "nur virtuell" sind, heißt nicht, dass sie nicht irgendwann wieder "real" werden können - bei einem Klassentreffen beispielsweise, das sich über WKW sehr gut organisieren ließe.
Denn: Die Virtualität ist nur virtuell virtuell. Es stecken reale Menschen dahinter.
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