Freitag, 17. April 2009

"Das Jüngste Gericht" im "Hôtel-Dieu" von Beaune

Heute mal eine Notiz aus dem (nicht wirklich konsequent geführten) Reisetagebuch vom 16. September 2007 in Beaune, Burgund:

Vorgestern besichtigten wir in Beaune das Hôtel-Dieu (Hospice), den "Palast der Armen", den der Kanzler von Burgund, Nicolas Rolin, 1443 stiftete. Neben dem beeindruckenden, 50 Meter langen Krankensaal blieb mir vor allem das - laut unserem Reiseführer - "Prunkstück der Ausstattung" im Gedächtnis: das Altarbild "Jüngstes Gericht" von Rogier van der Weyden aus dem 15. Jahrhundert. Es ist riesig: neun Tafeln! "Aufgeklappt ist der Altar 5,60 m breit." (Baedeker-Reiseführer Burgund, S. 160).




(Quelle: Wikimedia Commons - klicken für größere Version)


[Gerade entdecke ich mit Entsetzen, dass im Baedeker das Detail vom Altarbild, Erzengel Michael mit der Seelenwaage, seitenverkehrt abgedruckt ist - was völlig unmöglich ist, denn über Michael thront - im Baedeker nicht zu sehen - Christus als Weltenrichter, und ich glaube, für diese Darstellungen gilt ohne Ausnahme, dass die Seligen zur Rechten Christi in den Himmel, die Verdammten zur Linken Christi in die Hölle wandern. Vom Betrachter aus gesehen ist der Himmel also immer links, die Hölle rechts. Dies - vermutlich aus Layout-Gründen, nämlich damit Michael zur Buchmitte hin- und nicht aus dem Reiseführer herausschaut - zu ändern zeugt von gewaltiger Ignoranz.]

Mir fiel auf:
  • Die Seligen machen einen weit weniger erfreuten, glücklichen, erlösten Eindruck als die Verdammten einen verängstigten, verzweifelten. Die Seligen wirken eher demütig-untertänig-gleichgültig, während es für die Verdammten ganz offensichtlich nichts Grauenhafteres gibt als zu den Verdammten zu zählen.
  • Unter den Verdammten gibt es einige, die in herzergreifend flehenden Posen in Richtung Weltenrichter gezeigt werden. Sollte Christus tatsächlich derart unbarmherzig sein?
  • Die Darstellung der "Höllen-Seite" ist (für mich) ungewöhnlich: Nur ein paar Flammen züngeln, aber es sind keine Teufel, Dämonen oder sonstige Höllenwesen (wie etwa bei Hieronymus Bosch) zu sehen. Stattdessen steht den Verdammten die Angst buchstäblich in ihre Grimassen geschrieben, und: Sie reißen sich gegenseitig an den Haaren! Insgesamt wird die Höllendarstellung nach meinem Empfinden dadurch nicht weniger eindrücklich als bei Bosch - denn hier bleiben die Schrecken der Hölle der Fantasie des Betrachters überlassen.
  • Ich erinnere mich, dass mich auch die Nacktheit der Auferstandenen seltsam berührte. Gerade durch van der Weydens anatomisch getreue Darstellung erschien mir dies wie eine Verletzung des Intimbereichs derer, die vor den Weltenrichter treten - eine Demütigung aller (nicht nur der Verdammten). Ich sehe kaum Hoffens- oder Erstrebenswertes in diesem Bild und frage mich, ob der Mensch des Spätmittelalters solches darin gefunden hat.

Wikipedia-Artikel über Rogier van der Weyden

Wikipedia-Artikel über das Altarbild "Das Jüngste Gericht"

Wikipedia-Artikel über das Hôtel-Dieu de Beaune

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