Dienstag, 19. Juni 2012

Meine Hausandacht zu "Lola rennt" - wegen der großen Nachfrage ;-)

Hausandacht im Speyerer Landeskirchenrat am 19. Juni 2012, 8.15 Uhr
Multioptionalität in „Lola rennt“ –
von der einen Wahrheit und den vielen Wahrheiten


Wochenspruch
Christus spricht: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. (Mt 11,28)

Auslegung
Liebe Hausgemeinde!
„Mühselig und beladen“: Wie lassen sich diese Worte heute füllen? Was ist es, das Menschen heute als mühselig empfinden, woran sie sich also abmühen? Was lastet auf ihren, auf unseren Schultern, was tragen sie mit sich herum? Und zwar abgesehen von je individuellen Schicksalsschlägen, sondern als heute verallgemeinerbare Lebenswirklichkeit?

Für Luther war die entscheidende Frage, das, was ihn belastete, was ihn müh-selig werden ließ, ihm Mühe um seine Seligkeit verschaffte: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Gott als Letztinstanz war also fest vorausgesetzt, die Frage war: Wie kann ich ihn gnädig stimmen, wie ihn dazu bringen, dass sein Urteil über mein Leben gnädig ausfällt?

Irgendwann kam es dann zu einem Bewusstseinswandel: Nicht mehr um das gnädige Urteil Gottes ging es, sondern um das des Menschen selbst, um mein eigenes Urteil über mein Leben: Wie findet mein Lebensentwurf, wie finden die Wege, die ich gegangen, die Entscheidungen, die ich getroffen habe, Gnade vor mir selbst? Wie kann ich sie rechtfertigen, als sinnvoll, richtig und gut – gegenüber den vielen anderen Wegen, die ich stattdessen hätte gehen können, die Entscheidungen, die ich stattdessen hätte treffen können?
Die Beschaffenheit der modernen Gesellschaft tut das Ihre dazu, um diese Frage (Wofür sich entscheiden? Was ist gut und richtig, was falsch? Was kann und will ich vor mir und anderen verantworten?) zu verschärfen. Der Schweizer Soziologe Peter Gross prägte schon Mitte der 1990er Jahre den Begriff von der „Multioptionsgesellschaft“:

„Immer mehr Möglichkeiten und immer weniger Gewissheiten. ... Die kolossale Vervielfältigung der Optionen in allen Lebensbereichen, von der Badewanne über die Brillenfassungen ... bis hin zu den Möglichkeiten, Partnerschaften einzugehen oder mittels Reproduktions- und Gentechnologien ... Kinder zu bekommen, zeugt von einer Entfesselung und Freisetzung von Kräften, die in vormodernen Kulturen mit starren Gewissheiten undenkbar waren. ... Das Internet mit dem von ihm eröffneten Cyberraum ist lediglich der modernste Ausdruck der Multioptionsgesellschaft.“ (aus: St. Galler Tagblatt vom 01.05.2001) ... und mit den sozialen Netzwerken und Medien hat sich diese Entwicklung in den jüngsten Jahren noch einmal beschleunigt.

Zur Jahrtausendwende hin hat dann ein deutscher Filmemacher das menschliche Leben als Videospiel inszeniert: Die Qual der Wahl auf dem Weg zur Lösung - wenn's schiefgeht, Neustart und das Ganze noch mal von vorn. Der Wunschtraum: die vielen Möglichkeiten wirklich werden zu lassen, und nicht nur jeweils eine einzige.

Wir betrachten sechs kurze Szenen aus diesem Film; sie zeigen im Schnelldurchlauf je drei Möglichkeiten, wie sich das Leben zweier Menschen hätte entwickeln können. Den Vorspann sozusagen bildet immer die von einer eigentlich unmöglichen Aufgabe angetriebene Hauptperson.

[Filmszenen einspielen]

„Lola rennt“ von Tom Tykwer aus dem Jahr 1998, seinerzeit ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen. Der Film treibt das Phänomen der Multioptionalität auf die Spitze: die Dauerfrage nach der richtigen Entscheidung, nach dem gelungensten Lebensentwurf, und ob er bewusst angestrebt oder nur schicksalhaft angenommen werden kann.

Lola, die Protagonistin, muss für ihren Freund Manni innerhalb von zwanzig Minuten 100.000 Mark auftreiben, um ihm aus der Patsche zu helfen, in die er sich durch halbkriminelle Machenschaften verwickelt hat. Davon getrieben, rennt Lola durch die Stadt. In schnellen Schnitten, teilweise im Stil eines Musikvideoclips, erzählt der Film nun dreimal die Geschichte dieser 20 Minuten. Winzige Detailunterschiede, sei es eine kleine Verspätung, sei es ein zufälliges Zusammenstoßen, führen jeweils zu einem völlig anderen Verlauf der Geschichte: die ersten beiden Varianten enden böse, einmal mit dem Tod Lolas, einmal mit dem Tod Mannis, die dritte und letzte Variante geht gut aus, das Happy End. Damit nicht genug: Schnell eingeschaltete Serien von Fotografien erzählen jeweils die Lebensgeschichten von Menschen, denen Lola begegnet, und auch sie verlaufen je nach Art und Weise der Begegnung völlig unterschiedlich.

Kaum ein anderer Film weckt im Zuschauer so sehr die Frage nach dem „Was wäre, wenn ...?“ Wenn ich nicht diesen Beruf angestrebt hätte, sondern jenen? Wenn ich nicht dieses Auto gekauft hätte, sondern jenes? Wenn ich nicht zwei Kinder hätte, sondern drei? Wenn ich nicht diese Bücher gelesen hätte, sondern jene? Wenn ich nicht diese Lehrer gehabt hätte, sondern jene? Wenn ich im Lotto gewönne? Wenn ich mich damals nicht zurückgezogen, sondern die Begegnung gesucht hätte? Wenn ich nicht Christ wäre, sondern Muslim? Wenn ich nicht evangelisch getauft worden wäre, sondern katholisch?

Nebenbei: Die Taufe ist DAS ökumenische Sakrament – aber was bedeutet das, wenn der Ort der Taufe solch einen Einfluss auf einen ganzen Lebensweg haben kann?

Interessant ist: Der dritte Durchgang, der mit dem guten Ende, ist gespickt von wunderhaften Ereignissen. Lola schickt im vollen Lauf mit geschlossenen Augen ein Stoßgebet zum Himmel – ein Laster kommt gerade noch vor ihr zum Stehen, sie öffnet die Augen und erblickt ein Spielcasino, der Fingerzeig Gottes. Im Casino schreit sie mit dem Glauben, der Berge versetzt, die Kugel ins Ziel. Und eine Wunderheilung durch Lola gibt es auch noch. Am Ende hat nicht nur Lola 100.000 Mark gewonnen, sondern sogar Manni seine verlorenen 100.000 Mark wieder gefunden und abgeben können: tausendfach mehr beschenkt und gesegnet als zuvor, wie Hiob.

Doch der Film ist kein Plädoyer für die eindeutige Glaubenslösung. Denn: Rechtfertigt das gute Ende für Lola und Manni, dass es für andere nicht zu einem ganz guten Ende gekommen ist? Hat tatsächlich Gott Lolas Stoßgebet erhört, oder war es nur Zufall? Es ist doch eine unmögliche Aufgabenstellung durch ein unmögliches Geschehen gelöst worden – ist das eine realistische Option für das Leben eines Menschen? Nicht zuletzt bleibt die Ungewissheit: denn auch wenn der Film den guten Verlauf der Geschichte ans Ende stellt, so sind doch auch die anderen Verläufe ebenso wahrscheinlich, nein, sogar wahrscheinlicher.

Und doch kann man, glaube ich, auf die Frage: Wer oder was befreit den Menschen aus dieser Beliebigkeits-Tretmühle, aus der Entscheidungs- und Schicksalsspirale? sagen: Es ist die Liebe, die hier das Unmögliche wahr macht: die Geschichte immer wieder von Neuem beginnen zu lassen, bis sie zu einem guten Ende führt. Und ich glaube, darin wird eine Sehnsucht offenkundig, die uns auf die Spur dessen bringt, worauf die Christusbotschaft heute eine Antwort gibt. Die Hoffnung darauf, dass wir in der Liebe schon in dieser verwirrenden, fragmentarischen Welt doch auch Eindeutigkeit erfahren.

Können wir diese Botschaft und diese Erfahrung in Geschichten übersetzen, die ähnlich intensiv von der großen Wahrheit des Christentums erzählen, wie „Lola rennt“ von den pluralen Wahrheiten des Alltags erzählt? Oder genügt auch heute noch eine prägnante Formulierung wie die des Heidelberger Katechismus auf die Frage nach dem einzigen Trost: „dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin“?

Darauf bleibe ich heute Morgen Vorschläge und Antworten schuldig. Multioptionalität, ein Fragment, ein offener Schluss, auch hier.

Der Friede Gottes aber, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.


Zum Weiterlesen:

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